mercoledì 9 settembre 2020

Zu Hause beim Chief

 

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Zehn Quadratmeter Bremen: Franco Parpaiola fuhr lang zur See – jetzt hat er ein Zimmer in der Seemannsmission

Zu Hause beim Chief

Weser Kurier

Kristina Bellach 28.08.2016 0 Kommentare

Bremen. „Kommen Sie rein in die gemütlichen Katakomben!“ Jahrzehnte fuhr Franco Parpaiola als leitender Maschinist über die Weltmeere. 2005 ging er in Rente.

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Nun lädt er mit diesem markigen Spruch in sein kleines Reich im Wohnheim der Bremer Seemannsmission ein.

In den zehn Quadratmetern im ersten Stock, wo er ein permanentes Zuhause fand, sucht man Seefahrtsromantik vergebens: „Soll ich mir etwa einen Anker an die Wand hängen? Das ist doch Kitsch“, schnaubt Parpaiola. Als hätte jemand Tetris mit Möbeln gespielt, so sieht es eher aus. Ein funktionales Bett mit Metallgestell, ein Stuhl, ein Schrank, ein Tisch waren bei seinem Einzug vorhanden. Jetzt reihen sich drei Schreibtische aneinander, die Lücke zwischen Bett und Kleiderschrank ist verbaut mit schmalen, hölzernen Schubladenschränken, auf denen sich kleine Nachtschränke stapeln. In logistischer Feinarbeit nutzt Parpaiola allen Stauraum: Pfannen und Töpfe lagern unter dem Schreibtisch; ein Wasserkocher, Paniermehl und Instantkaffee auf der Oberfläche, dort, wo sie nicht durch zwei Computerbildschirme, Kabelsalat und Steckleisten belegt ist. Hinter den Bildschirmen wächst ein Turm aus Drucker, Collegeblock und Tastaturen. Tonlos und unbeachtet läuft Star Trek Voyager im Fernsehen vor sich hin. „Hab‘ mich schön eingenistet hier“, scherzt der alte Seebär, dessen Kajüte auf den kleineren Handelsschiffen nicht viel größer war.

Die Schotten hat Parpaiola weit geöffnet, ein Standventilator bringt etwas Luft. Durch die offene Tür dringt nichts als Stille. „Für viele Jahrzehnte war das hier voll belegt“, berichtet der Seemann, der heute einer der letzten ständigen Bewohner ist. Bei Besatzungswechsel buchen Reedereien die Zimmer für die Seeleute; heute jedoch seltener als früher. „Auch die Schiffe haben keine Zeit mehr“, moniert Parpaiola die kurzen Liegezeiten. Doch die Institution Seemannsheim bleibt, mit Gästen wie Seeleuten hauptsächlich aus Osteuropa und Asien, Touristen, Schaustellern und einigen afghanischen Flüchtlingen.

Früher, erinnert sich der Seefahrer, war das Heim „der Punkt, wo wir uns immer trafen, wenn wir etwas eher in Bremen ankamen.“ Das beste Hotel der Stadt sei es gewesen. Je öfter er hier logierte, desto mehr Freunde fand er – und blieb nach der Rente ganz hängen. Vermisst er seine Heimat in Italien nicht, das kleine Dorf nahe Udine? „Was soll ich da?“, fragt er zurück. „Im heutigen Italien würd‘ ich nicht klarkommen.“ Die Sonne scheine eben auch in Bremen.

Die Sonne aber muss oft draußen bleiben. Dann zieht Parpaiola die roten Vorhänge zu, knipst Deckenleuchte und Leuchtstoffröhre in der Waschecke an und setzt sich an den Schreibtisch. Jeden Tag, oft früh morgens, unterbrochen von einem Nickerchen, bis zur Mittagszeit. „Dieser Schreibtisch ist mein Lebensraum, hier schreibe ich, esse ich, gucke Fernsehen.“

Eine Tasse Kaffee mit Süßstoff gehört dazu, wenn er, den früher alle nur „Chief“ nannten, in die Tasten haut. „Seemannsgarn im Seemannsheim“ heißt ein Buch, das er gerade auf Italienisch übersetzt. Autobiografische Erlebnisse aus vierzig Jahren Seefahrt bringt Parpaiola auf den Bildschirm und letztendlich auf Papier. Dabei nimmt er kein Blatt vor den Mund. Wilde Saufgelage, die Mädels in den Häfen, echte Männerfreundschaften werden da lebendig.

Doch mehr als zehn Jahre Rentnerleben gaben ihm Zeit zum Nachdenken. Einmal, erzählt Parpaiola, sei er damit beauftragt worden, ein Schiff seetüchtig zu machen. Waffen aus dem Oman habe es schmuggeln sollen, sie wären für den Bosnienkrieg bestimmt gewesen. Das Schiff, ein rostiges Ding, soll seine Zulassung aus einem afrikanischen Staat erhalten haben. Seetauglich sei es keineswegs gewesen. Dieser Fall ist für Parpaiola in Beispiel für das, was ihm zufolge nicht nur die Seefahrt, sondern die Gesellschaft ruiniert: die Gier nach Geld, die Menschen über Leichen gehen lässt.

Der Schmuggel, Parpaiola kann ihn nicht belegen, sei ein offenes Geheimnis gewesen. Doch das steht auf einem anderen Blatt. Zwei Sachen aber werden ihn wohl bis an sein Lebensende beschäftigen: der Mann, den er damals kennenlernte. Ein durchschnittlicher holländischer Familienvater, der sich als Waffenschmuggler verdingte, sinnt Parpaiola nach – ein Geschäft, dem unzählige andere auch nachgingen, und dessen Lieferungen genauso in die Hände von Terroristen gelangen könnten. Dann der Handel mit Konzessionen und die Machenschaften der Reedereien, die Wracks erlauben, auf See zu fahren und im Zweifelsfall mit Mann und Maus zu sinken.

Einmal, erinnert er sich, sei er in einer Rotterdamer Kneipe auf einen Kumpel gestoßen. „Ich dachte, du bist tot!“, soll dieser bei Parpaiolas Anblick gerufen haben. Kurz zuvor hatte der Maschinist ein Schiff, das Holz aus Skandinavien nach England transportierte, verlassen. Hoffnungslos überladen, aber einige Hände geschmiert, lief es wieder aus. In der Nordsee kam es in einen Sturm und kenterte. Diese Dinge sind es, die Parpaiola anklagt: „Die Gier eines Mannes hat alle das Leben gekostet“.

77 Jahre ist Parpaiola heute. Warum nicht die Vergangenheit ruhen lassen? Die Antwort kommt unerwartet heftig: „Ich habe viele Freunde da draußen lassen müssen. Für die schreibe ich. Nicht für mich, weil ich mal Wut habe auf die Reedereien.“ Mit wenigen Schritten ist er in der gekachelten Ecke, am Waschbecken, um sich eine Handvoll Wasser ins Gesicht zu klatschen.

„Ich bin in der Scheiße gewesen mein ganzes Leben.“ Im Schubladenschrank wühlend, befördert er einen Ordner nach draußen – den ganzen Ranz, an dem die Seefahrt kranke, hat er dort dokumentiert. „Aber ich hab‘ Schwein gehabt, mir ist nie was passiert.“ Manchmal wundere er sich, noch am Leben zu sein. Das Leben jetzt, das sind die Geschichten, die er schreibt. Das Bier, die Weiber, die große Fahrt – alles passé. „Sehen Sie“, weist er um sich, „das ist ein ganz normales stinkiges Zimmer von einem ruhigen, alten Mann, der über sein Terrorleben schreibt.“ Dieses Zimmer aber war nie seine Wahlheimat. Die bleibt für immer das Meer.