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Zehn Quadratmeter Bremen: Franco Parpaiola fuhr lang
zur See – jetzt hat er ein Zimmer in der Seemannsmission
Zu Hause beim Chief
Weser Kurier
Kristina Bellach 28.08.2016 0 Kommentare
Bremen. „Kommen Sie rein in die
gemütlichen Katakomben!“ Jahrzehnte fuhr Franco Parpaiola als leitender
Maschinist über die Weltmeere. 2005 ging er in Rente.
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Nun lädt er mit diesem
markigen Spruch in sein kleines Reich im Wohnheim der Bremer Seemannsmission
ein.
In den zehn
Quadratmetern im ersten Stock, wo er ein permanentes Zuhause fand, sucht man
Seefahrtsromantik vergebens: „Soll ich mir etwa einen Anker an die Wand hängen?
Das ist doch Kitsch“, schnaubt Parpaiola. Als hätte jemand Tetris mit Möbeln
gespielt, so sieht es eher aus. Ein funktionales Bett mit Metallgestell, ein
Stuhl, ein Schrank, ein Tisch waren bei seinem Einzug vorhanden. Jetzt reihen
sich drei Schreibtische aneinander, die Lücke zwischen Bett und Kleiderschrank
ist verbaut mit schmalen, hölzernen Schubladenschränken, auf denen sich kleine
Nachtschränke stapeln. In logistischer Feinarbeit nutzt Parpaiola allen
Stauraum: Pfannen und Töpfe lagern unter dem Schreibtisch; ein Wasserkocher,
Paniermehl und Instantkaffee auf der Oberfläche, dort, wo sie nicht durch zwei
Computerbildschirme, Kabelsalat und Steckleisten belegt ist. Hinter den
Bildschirmen wächst ein Turm aus Drucker, Collegeblock und Tastaturen. Tonlos
und unbeachtet läuft Star Trek Voyager im Fernsehen vor sich hin. „Hab‘ mich
schön eingenistet hier“, scherzt der alte Seebär, dessen Kajüte auf den
kleineren Handelsschiffen nicht viel größer war.
Die Schotten hat
Parpaiola weit geöffnet, ein Standventilator bringt etwas Luft. Durch die
offene Tür dringt nichts als Stille. „Für viele Jahrzehnte war das hier voll
belegt“, berichtet der Seemann, der heute einer der letzten ständigen Bewohner
ist. Bei Besatzungswechsel buchen Reedereien die Zimmer für die Seeleute; heute
jedoch seltener als früher. „Auch die Schiffe haben keine Zeit mehr“, moniert
Parpaiola die kurzen Liegezeiten. Doch die Institution Seemannsheim bleibt, mit
Gästen wie Seeleuten hauptsächlich aus Osteuropa und Asien, Touristen,
Schaustellern und einigen afghanischen Flüchtlingen.
Früher, erinnert sich
der Seefahrer, war das Heim „der Punkt, wo wir uns immer trafen, wenn wir etwas
eher in Bremen ankamen.“ Das beste Hotel der Stadt sei es gewesen. Je öfter er
hier logierte, desto mehr Freunde fand er – und blieb nach der Rente ganz
hängen. Vermisst er seine Heimat in Italien nicht, das kleine Dorf nahe Udine?
„Was soll ich da?“, fragt er zurück. „Im heutigen Italien würd‘ ich nicht
klarkommen.“ Die Sonne scheine eben auch in Bremen.
Die Sonne aber muss oft
draußen bleiben. Dann zieht Parpaiola die roten Vorhänge zu, knipst Deckenleuchte
und Leuchtstoffröhre in der Waschecke an und setzt sich an den Schreibtisch.
Jeden Tag, oft früh morgens, unterbrochen von einem Nickerchen, bis zur
Mittagszeit. „Dieser Schreibtisch ist mein Lebensraum, hier schreibe ich, esse
ich, gucke Fernsehen.“
Eine Tasse Kaffee mit
Süßstoff gehört dazu, wenn er, den früher alle nur „Chief“ nannten, in die
Tasten haut. „Seemannsgarn im Seemannsheim“ heißt ein Buch, das er gerade auf
Italienisch übersetzt. Autobiografische Erlebnisse aus vierzig Jahren Seefahrt bringt
Parpaiola auf den Bildschirm und letztendlich auf Papier. Dabei nimmt er kein
Blatt vor den Mund. Wilde Saufgelage, die Mädels in den Häfen, echte
Männerfreundschaften werden da lebendig.
Doch mehr als zehn Jahre
Rentnerleben gaben ihm Zeit zum Nachdenken. Einmal, erzählt Parpaiola, sei er
damit beauftragt worden, ein Schiff seetüchtig zu machen. Waffen aus dem Oman
habe es schmuggeln sollen, sie wären für den Bosnienkrieg bestimmt gewesen. Das
Schiff, ein rostiges Ding, soll seine Zulassung aus einem afrikanischen Staat
erhalten haben. Seetauglich sei es keineswegs gewesen. Dieser Fall ist für
Parpaiola in Beispiel für das, was ihm zufolge nicht nur die Seefahrt, sondern
die Gesellschaft ruiniert: die Gier nach Geld, die Menschen über Leichen gehen
lässt.
Der Schmuggel, Parpaiola
kann ihn nicht belegen, sei ein offenes Geheimnis gewesen. Doch das steht auf
einem anderen Blatt. Zwei Sachen aber werden ihn wohl bis an sein Lebensende
beschäftigen: der Mann, den er damals kennenlernte. Ein durchschnittlicher
holländischer Familienvater, der sich als Waffenschmuggler verdingte, sinnt
Parpaiola nach – ein Geschäft, dem unzählige andere auch nachgingen, und dessen
Lieferungen genauso in die Hände von Terroristen gelangen könnten. Dann der
Handel mit Konzessionen und die Machenschaften der Reedereien, die Wracks
erlauben, auf See zu fahren und im Zweifelsfall mit Mann und Maus zu sinken.
Einmal, erinnert er
sich, sei er in einer Rotterdamer Kneipe auf einen Kumpel gestoßen. „Ich
dachte, du bist tot!“, soll dieser bei Parpaiolas Anblick gerufen haben. Kurz
zuvor hatte der Maschinist ein Schiff, das Holz aus Skandinavien nach England
transportierte, verlassen. Hoffnungslos überladen, aber einige Hände
geschmiert, lief es wieder aus. In der Nordsee kam es in einen Sturm und
kenterte. Diese Dinge sind es, die Parpaiola anklagt: „Die Gier eines Mannes
hat alle das Leben gekostet“.
77 Jahre ist Parpaiola
heute. Warum nicht die Vergangenheit ruhen lassen? Die Antwort kommt unerwartet
heftig: „Ich habe viele Freunde da draußen lassen müssen. Für die schreibe ich.
Nicht für mich, weil ich mal Wut habe auf die Reedereien.“ Mit wenigen
Schritten ist er in der gekachelten Ecke, am Waschbecken, um sich eine Handvoll
Wasser ins Gesicht zu klatschen.
„Ich bin in der Scheiße gewesen mein ganzes Leben.“ Im Schubladenschrank wühlend, befördert er einen Ordner nach draußen – den ganzen Ranz, an dem die Seefahrt kranke, hat er dort dokumentiert. „Aber ich hab‘ Schwein gehabt, mir ist nie was passiert.“ Manchmal wundere er sich, noch am Leben zu sein. Das Leben jetzt, das sind die Geschichten, die er schreibt. Das Bier, die Weiber, die große Fahrt – alles passé. „Sehen Sie“, weist er um sich, „das ist ein ganz normales stinkiges Zimmer von einem ruhigen, alten Mann, der über sein Terrorleben schreibt.“ Dieses Zimmer aber war nie seine Wahlheimat. Die bleibt für immer das Meer.