giovedì 13 agosto 2020

Das Schiffswerft SLK Komarno



Der nackte König
An dem Abend wollten wir, Helmut und ich, uns etwas Besonderes gönnen − und was ist für zwei herrenlose Seemänner in der Fremde besser als ein Streifzug durch die Kneipen einer fremden Stadt?
Wir taten genau das - aus dem ausgiebigen Streifzug wurde aber nichts, denn irgendwo nicht allzu weit von Zentrum der Stadt fanden wir eine ganz gemütliche Kneipe und blieben dort erst mal am Tresen hängen.
Deutsch sprach die Dame hinter der Theke zwar nicht, sie war aber nicht dumm − denn als sie sah, wie schnell und wie hingebungsvoll wir unsere Biergläser leerten, blieb sie bei der Zapfsäule stehen, und sobald sie halb leer waren, sorgte sie sofort für Nachschub, indem sie uns neues, frisches Bier zapfte.
Bei so einem Pensum kamen Helmut und ich ziemlich schnell auf den ersten Alarmpegelstand, was uns aber auf gar keinem Fall daran hinderte, sitzenzubleiben und weiterzumachen, zumal die junge Dame uns einen Teller mit geräucherter Wurst und Käsestücken vor die Nase gestellt hatte.
Helmut war weder auf dem Kopf gefallen noch war er als Kind mit zu heißem Wasser gebadet worden, er war in seiner Sprache ziemlich artikuliert, konnte seinen Standpunkt gut erklären und erörtern.
Wenn er aber von seiner Fahrtzeit als Kapitän zu erzählen anfing, stellte ich mich nach einigen Minuten taub.
Denn er, wie alle Kümo-Kapitäne, die ich kannte (bis auf ein paar wenige Ausnahmen), wollte mir immer klarmachen, wie gut und gekonnt er mit Maschinenanlagen aller Art klarkam, wie gut oder gar meisterhaft er mit Schiffen umgehen konnte, so dass − bei so viel Können und Wissen − ich armes Schwein nie aus dem Staunen herauskam.
Dabei musste ich mich immer und immer wieder aufs Neue fragen, wie es denn dazu kam, dass trotz zweier Hochdruckkompressoren, die bei Manövern wie verrückt Anlassdruckluft pumpten, denen immer wieder die Anlassluft knapp wurde.
Außerdem fragte ich mich immer, woher all die tiefen Beulen an dem Schiffen kamen und wie es dazu kommen konnte, dass die Hälfte der Piere und Schleusentore dieser Welt wie Trümmerhaufen aussahen.
Die Angst um die Geheimnisse des Maschinenraums muss bei denen ungezügelt in ihren Köpfen herumgaloppieren.
Nur Kapitäne, die keine Piere zertrümmern, keine Schiffe verbeulen, keine Schleusentore zu Schrott fahren, reden kein Blödsinn.
Die spinnen zwar auch ein bisschen, dafür sind sie ja Kapitäne, denn dämliches Herumalbern und Wichtigtun ist bei denen angeboren und daher, falls sie nicht gerade Scheiße bauen, unter Umständen sogar entschuldbar.
Die wahren Akrobaten des Salzwassergewerbes, die Huren und Götter des Meeres, reden wenigstens keine Kacke und sind, nebenbei bemerkt, Pfundskerle, fast normal, und meistens kann man sich mit denen sogar ohne Probleme unterhalten.
»Du hörst ja gar nicht zu, Franco!«
»Nicht, wenn du dauernd so eine Kacke erzählst.«
»Du glaubst mir also nicht?«
»Ich glaube dir.«
»Warum hörst du dann nicht zu?«
»Weil ich das schon tausendundeinmal gehört habe. Und außerdem habe ich mein Brennstoffsystem im Kopf, denn ich bin mir sicher, dass ich da etwas übersehen habe.«
»Bitte schrei nicht gleich los, wenn ich dir jetzt was sage, Franco.«
„Schieß los, ich höre.“
»Die Werft hat schon viele Schiffe gebaut, Meister, und kein Kapitän hat sich jemals über das Brennstoffsystem beschwert, und über die anderen Sachen übrigens auch nicht.«
»Ja, Helmut, das glaube ich dir aufs Wort, in der Tat, wahrhaftig, da hast du vollkommen Recht.«
Ich hatte keine Lust mehr, mich mit ihm über Arbeit zu unterhalten, zumal er meine sarkastische Antwort gar nicht begriffen hatte, und da es inzwischen schon 23 Uhr geworden waren, schlug ich vor, Feierabend zu machen, und fragte auch gleich nach der Rechnung.
Mit der Zeit lernte ich, dass er immer, wenn er ein paar Bier zu viel getrunken hatte, zu spinnen anfing.
Seine Spinnereien steigerten sich proportional und gleichmäßig, konsequent von Bier zu Bier, bis am Ende eines Saufgelages seine Überheblichkeit fast unerträglich wurde.
»Hier kann man mitten auf die Straße laufen und man wird nicht mal überfahren, so ruhig ist es hier«, fing der Gute an zu philosophieren, als wir die paar hundert Meter bis zur Ring-Bar zu Fuß gingen.
»Freu dich doch.«
»Ja, mein lieber Meister, in Deutschland kann man sowas gar nicht machen, denn da bist du rucky-zucky alle.«
»Ja, Helmut.«
»Nimm zum Beispiel die Autos, hast du die gesehen? Der allerletzte Schrott. Die paar guten, die hier herumfahren, sind deutsche Autos und bestimmt alle geklaut.«
»Nicht unbedingt, Helmut.«
»Hier ist alles so dunkel, alles so grau, kein Mensch ist weit und breit zu sehen, hier könnte ich nicht leben, und du?«
»Die Menschen hier sind nicht schlecht und die Stadt wird sich auch zusehends modernisieren, es wird besser werden, verlass dich darauf.«
»Nie und nimmer, mein lieber Meister, es wird uns Deutsche wieder mal eine Stange Geld kosten, besser wird die Lage hier aber nicht.«
Die Stadt war wirklich ruhig, so war’s doch überall auf dieser Welt an einem Dienstag spät am Abend, knapp eine Stunde vor Mitternacht.
Besonderes in kleinen Provinzstädten war es so, bei mir zu Hause war um diese Zeit schon bald Sperrstunde.
Dort war sogar ab zwanzig Uhr abends schon tote Hose, denn manche mussten am nächsten Morgen arbeiten gehen, viele andere waren arbeitslos und hatten kein Geld, und so lagen sie alle im Bett oder vor der Glotze.
Und ans Bumsen, so hatte ich von einigen guten Freundinnen von mir im Dorf gehört, dachte dort kein Schwein mehr.
In Bremerhaven, wo Helmut zuhause war, wurden sogar um diese Zeit die Straßen eingerollt, und um Geld zu sparen wollte man auch die Hälfte der Lichter der Stadt ausknipsen.
Mit den vielen Arbeitslosen − weil die Werften nichts zu tun hatten − war auch dort um diese Zeit Ruhe in Puff angesagt.
Es gab aber einen kleinen, einen winzigen Unterschied: Während in Komárno die Straßen leer waren, weil die Menschen am nächstem Tag arbeiten gehen mussten, um die Schiffe zu bauen, die von Haus aus in Bremerhaven hätten gebaut werden müssen, waren in Bremerhaven und auch in Bremen die Straßen leer, weil die Leute keine Arbeit und kein Geld hatten.
Man hatte ihre Arbeitsplätze ins Ausland exportiert, daher blieben die Menschen zu Hause und schliefen.
Sie schliefen nicht, weil sie am nächsten Tag zur Arbeit gehen mussten, sondern weil sie als Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger es sich nicht leisten konnten, abends bis spät auszugehen. So einfach war das.
Nur weil er ein paar Biere zu viel getrunken hatte, machte ich ihn nicht auf seinen Denkfehler aufmerksam, ich hielt die Klappe dicht, zumal wir bei der Ring-Bar angelangt waren, die neben unsere Wohnung lag, sonst wäre sein dämliches Gequassel bis in alle Ewigkeiten weitergegangen.
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Die Ring-Bar hatte auch noch zu später Stunde auf, und so steuerten wir in freudiger Erwartung, ohne lange zu überlegen, darauf zu.
Wie der Teufel es manchmal so will, das Lokal war zum Bersten voll.
Irgendeine Studentenvereinigung, wie wir gleich darauf vom Kellner erfuhren, hatte zur Party geblasen, und die war voll im Gange.
An der Theke fanden wir aber Platz, und als Karl, der Kellner, uns sah, zapfte er uns sofort zwei Biere an.
»Dieses Bier ist gar nicht mal so schlecht, nicht wahr, Franco, oder was meinst du?«
»Auf dieser Welt ist etwas gewaltig nicht in Ordnung, Helmut, denn: Entweder ist das deutsche Reinheitsgebot der größte Betrug dieses Jahrtausends, oder man bescheißt uns hierzulande nach Strich und Faden, denn«, - so dozierte ich mit Bedacht und Würde einem staunenden Helmut - »wie kommts zum Beispiel, dass wir, die eingeschworenen Biersäufer, nach ein paar Tagen des Genusses dieses himmlischen lokalen Gebräus immer eine dicke Wampe bekommen, dass es nur so rumpelt; warum passiert uns so etwas nicht in Deutschland? Könnte sein, dass die deutschen Bierbraumeister gar keine Bierbraumeister, sondern glattweg ein Haufen Bierpanscher sind, die uns an gefärbtes Sprudelwasser mit Biergeschmack und Alkohol drin gewöhnt haben? Und wir alle, und damit meine ich den ganzen verdammten Planeten, nennen es deutsche Braukunst und nicht Bierpanscherei oder Bieranschiss? Könnte sein, dass der gesamte Planet seit 1516 auf das größte Märchen aller Zeiten reingefallen ist, und kein Arsch hat es bis heute gemerkt? Was wäre, wenn sich uns allen das Märchen vom deutschen nackten König hier und heute in einem slowakischen Bierglas in der Ring-Bar in Komárno offenbaren würde?»
»Prosit, du Arschloch.«
»Prosit, Helmut.«
»Sag mal, Franco, bist du beknackt? Wie kommst du auf die Idee, die deutsche Bierbraukunst in Frage zu stellen? Hast du sie denn nicht mehr alle?«
»Wieso?«
»Wieso? Was zum Teufel heißt denn hier wieso? Du wagst es, die deutsche Bierbraukunst in Frage zu stellen und traust dich, mich zu fragen, wieso?«
»Was du hier trinkst ist Pilsner Urquell, Helmut.«
»Und?«
»Und? Was zu Teufel heißt denn hier und? Jedes Bier, das sich Pils nennen will, sollte so sein, sonst wäre es ja kein richtiges Pils, oder? Infolgedessen dürfte es sich also nicht Pils nennen, sich bestenfalls „nach Pilsner Art“ schimpfen, mehr aber nicht, nicht wahr?«
»Worauf willst du hinaus, Franco?«
»Ich versuche dir klar zu machen, dass wenn es wahr ist, dass das, was wir hier trinken, die wahre Bierbraukunst ist, das deutsche Reinheitsgebot eine Erdichtung, eine Lüge, ein Verrat an all den edlen, ehrlichen und rechtschaffenen Biertrinkern dieser Welt ist, eine gemeine Täuschung.«
»Du spinnst, du willst mich auf dem Arm nehmen, nicht wahr, Franco?«
»Sehe ich so aus? Weiter will ich dir klar machen, dass höchstwahrscheinlich ein Haufen Geschäftsleute dem Kaiser damals den Reinheitsgebots-Erlass aus reiner Geld- und Gewinnsucht diktiert haben, um Malz und Hopfen zu sparen, und dass er, ebenfalls aus Geldgier, unterschrieben hat. Das Volk hat damals dem Kaiser geglaubt, denn was aus kaiserlicher Feder kommt, muss ja zwangsläufig gut fürs Volk sein, so hat man die Menschen damals und bis zum heutigen Tag doch erzogen, oder? Blindes Vertrauen und blinder Gehorsam, oder wie war das noch?«
Ich machte eine Pause und schaute mir Helmut an, der saß da mit hochrotem Kopf, starrte verbissen in sein Bierglas und sagte nichts.
»Das Geschäftsgesindel soll ruhig noch mehr Geld verdienen, Hauptsache, das Volk ist ruhig und säuft und furzt und rülpst selig vor sich hin«, dozierte ich weiter. »Denn zum ersten«, fuhr ich also ungehindert fort, »wie mein damaliger Kollege aus Rom einmal sagte: Pecunia non olet. Zum zweiten muss sich damals der Kaiser gedacht haben: ‚Wenn die alle besoffen sind, merken sie nicht, wenn ich selber Scheiße baue‘, denn damals, Helmut, gab es weder Fernseher noch Radios, er musste sich also auf andere Weise das Volk vom Leibe halten. Also gab er klein bei und unterschrieb den Reinheitsgebotserlass, und somit wurde das Reinheitsgebot für alle Ewigkeit erlassen, und das furzende und rülpsende Volk furzte und rülpste nicht mehr und berauschte sich damals genauso wie heute in aller Seligkeit, amen. ‚Berauschen wir sie alle‘, sangen daraufhin im Chor all die Geschäftshalunken, hoch erfreut über so viel kaiserliches Wohlwollen und den Geldsegen − denn heute berauschen wir Deutschland und morgen die ganze Welt. Damals konnte man das Volk viel einfacher manipulieren als heute, zum Beispiel konnten viele damals nicht lesen und schreiben, es waren bescheidene, an Gott und Kaiser glaubende, genügsame ländliche Leibeigene und Diener irgendwelcher Herrscher. Heute wäre das nicht so aalglatt über die Bühne gegangen. Nein, Helmut, heute hätte das nicht geklappt; um heute so etwas Ähnliches durchsetzen zu können, hat man zuerst das Radio und danach den Fernseher erfunden. Panem et circenses, Brot und Spiele also, sagen wir lieber flüssiges Brot und Spiele dazu. Du kannst es, wenn du möchtest, auch „Harz IV und Wetten, dass“ nennen, es kommt immer auf dasselbe heraus: das Volk zu verarschen. Dann kam man Schiffe im Ausland bauen und die, die es bezahlen und den Arsch dafür hinhalten müssen, sagen nichts dazu. Warum denn auch, die haben doch ihr panem et circenses, nicht wahr? Hast du begriffen, um was es hier geht? Heute in Deutschland und morgen in der ganzen Welt soll der Wille der Menschen den Banken unterworfen werden, und wenn das so ist, hätten sie es fast geschafft.«
»Wieso hätten?«, fragte der patriotische Depp aus Bremerhaven, kämpferisch und siegessicher.
»Geht nicht mehr, es ist zu spät.«
»Und warum denn das?«, wollte Helmut wissen.
»Die sind grade eben allesamt über ein Glas Pilsner Urquell gestolpert.«, antwortete ich lauthals lachend und ging erst mal pissen.
»Hast du es endlich begriffen, Helmut?“, fragte ich ihn, als ich wieder an der Theke war. »Das deutsche Volk zuerst und dann der Rest der Welt scheinen auf die größte Bauernfängergeschichte aller Zeiten reingefallen zu sein. Wir, die eingeschworenen Biersäufer dieser Welt, werden langsam nüchtern und beginnen zu begreifen, dass man uns belogen und betrogen hat. Wir werden sehr bald ganz nüchtern sein, einen kolossalen Kater haben und verflixt sauer sein, und wir werden den nackten König in den Arsch treten, und dann, was dann, Helmut?«.
Helmut schaute mich an, so als ob ich ein Marsmensch oder ein Anathema in Menschengestalt wäre, in seinem Suff begriff er gar nichts mehr und an allerwenigsten, was ich ihm mit meiner Metapher sagen wollte. Er schien sich nur noch zu fragen, wie es dazu kommen konnte, dass so ein komischer Italiener, wie ich nun mal einer bin, es wagt, das Heiligtum der Deutschen und den Glauben aller Biertrinker dieser Welt an das Reinheitsgebot aus dem Jahr 1516 als solches in Frage zu stellen und auf die Anklagebank zu setzen.
In seiner selbstbetrügerischen, selbstberauschenden und selbstherrlichen Wahnvorstellung des Überlegenen und in den Ohren des besserwissenden rechtschaffenden Mannes ist meine Theorie die pure, die reinste Blasphemie.
Solche gotteslästerlichen Volksketzereien, derartig abwegige, anmaßende, leitkulturfeindliche und gottlose Ketzerei, solche dermaßen volksspaltenden Häresien könnte man, seiner Meinung nach, nur auf dem Scheiterhaufen sühnen und nirgendwo sonst.
Schon sah ich die Flammen in seinen Augen lodern, mich verschlingen und mich bei lebendigem Leib qualvoll verbrennen.
Sein Gehirn war aufgrund der vielen Biere stark eingenebelt und konnte, obwohl er es allem Anschein nach krampfhaft versuchte, keine Gegenargumente auf meine Mutmaßungen produzieren. Und so gab er klein bei.
Er ging noch einmal pissen, und als er wiederkam, ging er mit einen knappen: »Manchmal kannst du wirklich ein Ekel sein, Franco«, beleidigt nach Hause und ich hatte meine Ruhe.
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Nur der Gedanke, Treppen steigen zu müssen, und das auch noch bis zur vierten Etage, hielt mich noch für eine Weile an der Theke der Ring-Bar.
Erst nach Mitternacht, als langsam auch die anderen Gäste nach und nach Feierabend machten, entvölkerte sich das Lokal, und so zahlte ich unsere Rechnung und machte mich auch auf die Socken.
»Gut, dass wir hier nicht in Holland sind«, dachte ich, als ich endlich in unserer Wohnung ankam, denn die steile Bauart der holländischen Treppen, und das auch noch bei neunundfünfzig Stufen, wäre in der Tat für einen alten, halbbesoffenen Mann die reinste Tortur gewesen.

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