Aus dem Manuskript n°4/2007: „Von anderen Geschichten und Epilogen.“
Die Geschichte der Seefahrt ist eine von den vielen Geschichten, die die Menschheit in ihrer Evolution im Laufe von vielen Jahrtausenden zustande gebracht und geprägt hat.
Die Geschichte der Seefahrt ist wiederum auch voll von Geschichten, Schicksalen und Tragödien, die das Leben der Menschen gekennzeichnet und bestimmt haben.
Die Seefahrt beeinflusst, prägt und lenkt manchmal sogar das Leben viele Menschen und in manchen Fällen auch von ganzen Völkern.
Seefahrt tut Not, sagt man, das stimmt sogar, denn Seefahrt ist Handel, Handel tut Not also, denn Handel schafft Arbeit und Wohlstand für alle.
Wirklich für alle?
In seiner Predigt zum 150. Jahrestag der Seemannsmission zu Bremen sagte der Seemannspastor Peter Bick unter anderem, die Seefahrt bringe nicht nur Wohlstand und Segen mit sich, sondern auch den Tod.
Der Tod, als Ausrotter vieler Volksstämme, kam nicht durch die heimatlichen Kriege zwischen den verschiedenen Stämmen dieser Welt, denn solche Kriege haben noch nie die totale Vernichtung der menschlichen Rassen herbeigeführt.
Solche Auseinandersetzungen damals brachten höchstens die Versklavung und später die Verschmelzung der Besiegten mit dem Sieger mit sich.
Niemals die totale Vernichtung eines Volkes.
Deren Tod kam durch eingeschleppte Krankheiten und aufgezwungene Bräuche der europäischen zur See fahrenden christlichen Konquistadoren.
Es war ein auf leisen Sohlen dahin schleichender Tod, der da hereinbrach über Urvölker, die im Laufe vieler Jahrtausende Naturgewalten aller Art überlebt hatten.
Es war fast, wie eine schnelle tödliche Plage, so schnell und so zielgenau, die im Laufe einiger Jahrhunderte manche Volksstämme von der Bildoberfläche der Geschichte für immer verschwinden ließ.
Manche von uns nennen so was die unverfälschte Selektivität von Mutter Natura.
Andere nennen es Evolution oder Fortentwicklung, viele sagen sogar Entfaltung dazu.
Das ist nicht die menschliche Evolution, das ist weder Fortentwicklung noch Fortschritt.
Vielmehr ist das unser Stillstand.
Das ist als die Stagnation der moralischen und christlichen Werte, die Rückentwicklung des Menschen zu seinen barbarischen Instinkten und nicht als quasi vorgefühlte Entwicklung der Menschheit zu betrachten.
Das ist keine Evolution, das ist ein im Namen Gottes angewandter Rückgang zur Gottlosigkeit. Ein Rückgang, der nur durch das unersättliche Geld und die Machtgier einiger weniger über all die vielen anderen hervorgerufen wurde − und nichts anders.
An jenem Tag sprach der Seemannspastor in seiner Predigt von jenen Timucuan Indianervolk, das von spanischen Seeleuten in den heutigen USA zuerst entdeckt und später „zivilisiert“ wurde.
Zu jener Zeit schrieb man das Jahr 1565. Kaum 200 Jahre später, nämlich im Jahr des Herrn 1729, starb der letzte dieser Menschen.
Wie seine Mitmenschen vor ihm starb auch er an eingeschleppten Krankheiten und fremden Bräuchen, an Willkürherrschaft und Ausbeutung durch den zur See fahrenden christlichen Eroberer.
Das alles geschah natürlich im Namen Gottes und dem des Königs.
Allein auf dem amerikanischen Kontinent, so der Seemannspastor, fanden damals um die 40 Millionen Menschen den Tod, kraft der damaligen zur See fahrenden Zivilisationen aus Europa und infolgedessen auf brutalste Weise, durch Kriege.
Es sieht wirklich so aus, dass damals die Überlebenden die Toten beneideten.
Denn die Krieger auf den Schlachtfeldern starben schnell, manche von denen merkten es noch nicht mal, wenn sie starben.
Die Überlebenden aber, ihre Frauen und Kinder, die Greise, die Schwachen, durften durch Hunger und Entbehrungen, eingeschleppte Krankheiten und Misshandlungen aller Art, auf elende Weise einfach krepieren.
Mit dem damaligen geklauten Gold und anderen eroberten Schätzen legten die so genannten christliche Conquistadores das Fundament für unsere heutige Industriegesellschaft und unsere heutigen Infrastrukturen.
Denn sie bauten noch größere Schiffe, um noch mehr ferne Länder auszuplündern und noch mehr Menschen versklaven zu können.
So war die Seefahrt, damals vor kaum siebenhundert Jahren, heute ist es anders.
Wirklich?
Denn während die Seefahrt heute von vielen als Bindeglied zwischen Menschen und Kontinenten und als Brücke zwischen Kulturen, als nicht wegzudenkende Infrastruktur der modernen Marktwirtschaft betrachtet und mit Recht verstanden wird, betrachten viele die Völker der Dritten Welt im Gegenzug der internationalen Seefahrt als den einzigen Weg, sich aus der kollektiven Armut und dem Elend der Mittellosigkeit loszureißen.
Gerade dadurch und wahrscheinlich deswegen werden viele von denen sterben.
Diese Völker werden aussterben, nicht, weil die Seefahrt als solche tödlich ist, nein, die Seefahrt ist nicht tödlich, die Seefahrt ist unser aller Lebensader.
Sie werden aussterben, weil sie ihre uralten Lebensformen mit den unseren vergleichen werden.
Danach werden sie sich von unserer viel bequemeren und illusorischeren Scheinwelt blenden lassen, uns nachahmen wollen und daran, wie jene Timucuan-Indianer, letztendlich zugrunde gehen.
Wir, wir werden aussterben, weil wir unsere Lebensgrundlage zerstört haben in dem Wir anderen Zivilisationen und dessen Habitat, aus blinder Besitzgier, zerschmettert haben.
Wir werden aussterben, weil wir es zugelassen haben, dass die Seefahrt unsere Meere und unsere Luft verpestete, weil unsere Industrien unsere Erde langsam, aber sicher für uns alle unbewohnbar gemacht haben.
Am Anfang unwissend, willig und wissensdurstig.
Später dann gierig und unersättlich.
Danach nach Herrschaft und Stärke, nach Macht und Reichtum lungernd.
Und zum guten letzten Schluss als Tüftler, als immer kreativer werdende machiavellistische, selbsttäuschende Heuchler und bis zum bitteren Ende nur noch vervollständigende und hemmungslose Beschleuniger unserer eigenen Selbstzerstörung.
Die Seefahrt wird ja als eine unserer Lebensadern betrachtet, es ist aber eine illusorische Lebensader, die wichtigste von allen unseren illusorischen Lebensadern sogar.
Ohne die Seefahrt würden bei uns die Lichter ausgehen, danach würden wir ebenfalls aussterben, in diesem letzten Fall aber, nur weil wir das Maß aller Dinge, nämlich die Genügsamkeit, einfach vergessen haben.
Wir kennen keine Genügsamkeit mehr, keine Bescheidenheit.
Wörter wie Nächstenliebe und Gegenseitigkeit sind uns fast zu Fremdwörtern geworden.
Nur die Gier nach mehr und noch mehr Besitz und Macht über den anderen treibt uns voran.
Der Macht, über andere zu bestimmen, befehligt unser Leben, danach handeln wir.
Wir bemessen unsere Stärke nach unseren Bankkonten, niemals nach dem allgemeinen Wohlstand des Landes.
Wir jammern zwar patriotisch und vergießen Tränen der Rührung, ja, sogar Gänsehaut überfällt uns, wenn unsere Nationalhymnen auf internationalen Kundgebungen in alle Winde posaunt werden.
Die Lust nach Reichtum und Macht, der Trieb nach der Berauschung an der Kraft des Geldes und an Selbsttäuschung ist mächtiger als der Willen zur Selbsterhaltung.
Es ist nicht die Angst um die ungewisse Zukunft, die uns diktiert, keine Kinder zu haben.
Wenn auch unsere vergifteten Organismen zum großen Teil zeugungsunfähig geworden sind, die, die es könnten, die zeugen keine Kinder, weil sie das Leben, absurd wie es auch klingen mag, nicht zu leben wissen.
Unsere Blindheit ist unser Wegweiser, nicht unser Verstand.
Wir haben Angst.
Wir haben Angst zum Leben, das wahre christliche Leben zu leben versetzt uns insgeheim in Panik, denn in Christus zu leben, das heißt auch mit den anderen teilen, und das wollen wir nicht.
Darum berauschen wir uns, wir berauschen uns aber nicht, weil wir es schön finden, wir tun das, weil wir Angst haben.
Wir haben Angst zu lieben, die wahre Liebe zu lieben, denn Leben zu geben heißt ja Liebe.
Darum berauschen wir uns mit Geld, mit Autorität über andere, wie besessen jagen wir nach der Wollust der Macht, und halten das Maß aller Dinge, die Liebe als solche, weit weg von uns entfernt.
Manche betrachten die Seefahrt nicht nur als Zubringer von Wohlstand und Behaglichkeit; denn die sehen es ja, was die Seefahrt aus uns und aus unserer Mutter Erde gemacht hat, daher betrachten sie die Seefahrt her als Herold der Zerstörung des eigenen Lebensraums und als Vermittler von fremden Gebräuchen, quasi als Zusteller von Tod und Verderben und Zerlegung eigener Lebensarten und Traditionen.
»Uns hat eure Art von Seefahrt den falschen Wohlstand gebracht. Uns hat eure Art von Seefahrt einen unrealistischen Reichtum gebracht. Eure Seefahrt wird uns auch den Tod und die Verwüstung unserer Inselwelt bringen«, sagte mir eines Tages einer unserer Kiribati-Matrosen in der Messe der MS NEMUNA, nachdem er mir einige Videokassetten über seine Inselwelt inmitten des Pazifischen Ozeans gezeigt hatte.
Ja, er hatte mir Videos über seine Insel vorgeführt, von der Hütte aus Palmenzweigen, Marke Eigenbau, wo seine Frau und seine Kinder wohnten.
Er hatte mir Videos von kleinen Dörfern, die den elektrischen Strom noch nicht mal kannten, gezeigt.
Von Menschen, die sich noch nach uraltem Gebrauch die Fische, die sie zum Essen und nur so viele, wie sie für den täglichen Bedarf brauchten, aus dem Meer holen und vor ihren Hütten ihre Mahlzeiten in eine Mulde im Sande graben und über Heißsteine und gewickelt in Palmblätter zubereiten.
Er hatte mir Videos von den weißen Stränden gezeigt, von seinem Ozean und seinen Freunden, die dort auf Fischfang gingen.
Er erzählte mir von deren uralter Haltung dem Leben gegenüber, von Taifunen, von den Tsunamis, die sein Volk im Laufe der Jahrtausende zwangsläufig erlebt hatte und überlebt haben musste.
Ich war beeindruckt von ihrer einfachen Denkweise, ja, ein bisschen neidisch sogar.
Danach erzählte er mir, wie Bekannte von ihm, vom Wind und Strömungen getrieben, sechs Monate lang auf einem kleinen Fischerboot in dem Pazifischen Ozean trieben. Wie sie doch dank der Fische, die sie fingen, überleben konnten, und ihre Odyssee deswegen im Guinness Buch der Rekorde verewigt wurde.
„Das alles haben wir überlebt, die Tsunamis, die Taifune und sonstige Naturkatastrophen haben wir durch unsere Art und Weise zu leben überlebt.“
Danach zeigte mir der junge nachdenkliche Mann Videos vom ansteigenden Meeresspiegel und abgespülten Stränden.
Von Meereserosion abgefällte Palmenbäume.
Von Salzwasser verseuchte Trinkwasserlöcher.
Von Plastikmüll und Plastiksäcke voll verbrauchter Batterien, von billig Radios und verrosteten und ausgeschlachteten tragbaren Stromgeneratoren, von leeren Schnapsflaschen und von Alkohol gekennzeichnete Männer.
„Siehst du, Meister, mein Volk hat im Laufe der Jahrtausende vieles überlebt. Wir haben sogar die Engländer überlebt. Die kamen, die tauften unsere Welt kurzerhand in Gilbert Inseln um, und da bei uns außer uralten Lebensweisheiten und Bräuchen nicht anderes zu holen war, ließen die uns in Frieden. Euch und eure Seefahrt, eure Zivilisation, eure Denkweise, ihr alle, alle, wie ihr da seid, euch überleben wir nicht. Eure Art von Leben hat viele junge Männer meines Volkes verwirrt und angesteckt. Eure Seefahrt, eurem Industrien und Umweltverschmutzung haben die Erde ruiniert. Dadurch steigt der Meeresspiegel und meine Heimat wird in absehbarer Zeit als Erste in den Fluten der Ozeane für immer verschwinden. Das haben wir größtenteils nur euch zu verdanken. Mein Heimatland, meine Inselwelt wird in absehbarer Zeit − und zu meinen Lebzeiten noch − für immer von den Strömen und Fluten der Ozeane verschluckt werden. Manche Teile von euren Heimatländern aber auch − viele von euch, ihr, die vielen, werdet auch mit uns, den wenigen, zugrunde gehen.“
martedì 1 marzo 2011
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